Das mit der Hingabe #2

In Das mit der Hingabe #1 haben wir gesehen, dass nicht Hingabe selbst zu mehr Hingabe führt, sondern Grenzensetzen.

Die moderne Forschung, die sich mit dem „Design“ unseres Nervensystems beschäftigt, beschreibt als Formel für natürliche Hingabe diese Reihenfolge:

  1. Schritt: Sicherheit (Schutz meiner Grenzen)
  2. Schritt: Annäherung (Knistern… Kontakt…)
  3. Schritt: Berührung (inkl. HINGABEvoller Sex)
  4. Schritt: Bindung (ein gemeinsames Revier – und vielleicht Nestbau und kleine Babys:-))

Wir können also zusammenfassen, dass unsere Kultur die umgekehrte Reihenfolge von dem praktiziert, was unseren natürlichen Impulsen entspricht.

Wir glauben nicht unseren Körpern, sondern den romantischen Märchen unserer Zeit: Perfekte erotische Hingabe führt zu Verbindung und Vertrauen, zu Geborgenheit und dem Gefühl, durch den Anderen beschützt zu sein.

Leider nützt mir wenig, wenn mein Held nach dem Sex bereit ist, sich vor mich zu werfen, um die Kugeln abzufangen. Mein Nervensystem schlägt dennoch Alarm. „Er war einfach nicht der Richtige.“ werde ich später sagen.

Wir lernen das Gegenteil von dem, was uns leicht fiele. Kein Wunder, dass es uns schwerfällt.

Ich glaube, in der anti-instinktiven Reihenfolge unserer Beziehungsfindung und -führung liegt begründet, weshalb wir soviel „zwanghaftes Kontrollieren“ in unseren Bindungen erleben und weshalb „Du siehst mich gar nicht!“ ein Klassiker der Beziehungs-Streits geworden ist. Nach Jahren holt uns ein, was wir VOR dem gemeinsamen Nestbau vermieden, verdrängt, gefürchtet und geleugnet haben.

Ergebnis: Wir fühlen uns nicht wirklich sicher, und zwar mit jenen Menschen nicht, mit denen wir am meisten Zeit und Raum in unserem Leben teilen.

„Generation beziehungsunfähig“? Nicht unsere Fähigkeit zur Bindung ist desolat, sondern unsere Fähigkeit zur Abgrenzung.

Meiner Ansicht nach erklären wir dieses Massenphänomen am Einfachsten mit einer kollektiven Traumastruktur. Die von mir sehr geschätzte Sexualtherapeutin Marlise Santiago analysiert in ihrem Buch „Schluss mit SecondHand-Sex“ unser erlerntes sexuelles Verhalten und beschreibt eine grundlegende Abspaltung vom Körperlichen – unsere Entfremdung von uns selbst, die so normal geworden ist, dass sie niemandem mehr auffällt.

Wir spüren wohl, dass das mit der Hingabe nicht so einfach ist, wie wir uns das wünschen. Aber den Schlüssel zu dem Ganzen suchen wir dann im Lichtkegel unseres Bewusstseins… und nicht dort, wo wir ihn verloren haben.

Nun wissen wir, dass das Unvermögen, zu spüren, was ich will und nicht will – und wann und wann nicht, auf einer Entfremdung von unseren Instinkten beruht. Und diese Entfremdung wiederum haben wir im Trauma gelernt.

Dass das Naheliegende übersehen wird – dass die ersten und simpelsten Impulse (Nähe, Abstand, Wut, Berührung, Sex, Bewegung, etc.) verpasst werden, abgeschwächt, unterdrückt, frisiert und angepasst, sobald wir nicht mehr alleine sind – dass wir das Einfache kompliziert finden und das Komplizierte normal, all das ist charakteristisch für traumatische Prägungen.

Ein Trauma besteht aus unabgeschlossenen und unterdrückten Bewegungen in unserem Nervensystem – Trauma IST diese graduelle Entfremdung von unseren Instinkten, die wir beobachten.

Interessanterweise kann das Wort „Trauma“ heftige Abwehr triggern, zumal, wenn wir es wagen, diesen Begriff auf unsere Sexualität anzuwenden. Aber ist es nicht interessant, dass dennoch (oder deshalb) diese Dynamik treffend beschreibt, wie wir uns verhalten, weshalb wir uns so verhalten und weshalb wir uns nicht ändern können, auch wenn wir schmerzhaft erleben, dass unsere Strategien im Kontakt nicht funktionieren? Weshalb wir uns immer wieder in die Nähe zueinander verrennen?

Trauma ist keine Krankheit, keine Ausnahme und kein Makel. Trauma ist bei weitem mehr als eine individuelle Sache. Trauma braucht keinen „Täter“ – wir wissen, dass Trauma auf vielen verschiedenen Ebenen in unser Leben treten kann, dass wir Traumata genetisch weitertragen und im Verlauf mehrerer Generationen verformen, auflösen oder festschreiben.

Trauma ist einer der Stoffe, aus denen diese Welt gemacht ist, eine alles durchsickernde, alles durchwebende Kraft, immer dieselbe Substanz mit aber tausend Gesichtern, Formen, Bewegungen, Wirkungen, Flüchen und Geschenken.

Trauma ist eine Dynamik, die uns kollektiv noch soviel mehr betrifft als individuell. Und in Bezug auf unsere allgemeine sexuelle Hilflosigkeit und Unerfahrenheit ist „kollektives Trauma“ eine treffende Beschreibung.

Wenn wir in unseren intimen Beziehungen Grenzen nachträglich stärken wollen, dann ist gut, wenn wir die Dimension dieser Herausforderung sehen. Sobald wir die Dimension von Trauma an unser Projekt heranlassen, klärt und vereinfacht sich vieles, woran wir vorher verzweifeln – bei uns selbst und unseren Partnern.

Den Ursachen auf der Spur

Trauma entsteht in einer Grenzverletzung, welche unweigerlich über das Menschentier hereinbricht. Natürlich geschehen Grenzverletzungen an sich auch unter Tieren – jeden Tag rennen Millionen von Beutetieren um ihr Leben.

Ein Tier, noch bevor es sich nach neuen Partnern umschaut, noch bevor es sich die Zeit nimmt, zu fressen, repariert diese Grenzen. Es sichert sein altes Revier oder sucht sich ein neues, es markiert die Grenzen seines Raumes und passt auf sie auf. So erleidet das Tier zwar eine Situation, die wir Menschen als „traumatisch“ bezeichnen würden, aber es erleidet kein „Trauma“ im eigentlichen Sinne – nämlich keine fortlaufende, chronische Wunde in seinem Gespür und Mut, auf seine Grenzen zu achten, sie zu schützen und sie schützenswert zu finden.

„Trauma“, wie es uns Menschen zu schaffen macht, ist erst dies: das Nicht-wieder-Auflösen der Grenzverletzung NACH der Grenzverletzung, das Bleiben in dem Erleben und Gefühl, die Grenzen seien einmal gestört worden und nun irreparabel, für immer fragil, offen und zufällig.

Trauma liegt also nicht im Ereignis selbst, sondern entsteht erst in unserem Verhalten danach, in dem, was wir danach tun bzw. nicht tun. Erst wenn wir unserem Nervensystem nicht den Raum, das Verständnis, die Einladung vermitteln, zu tun, was es tun möchte – nämlich seine Grenzen zu sichern – nimmt unser Nervensystem Schaden.

Grenzen sichern plus Hingabe?

„Aber das ist absurd – wir wollen uns doch nichts Böses! Wir sind seit 4 Jahren zusammen, wir lieben uns – und wir wollen den Sex miteinander genießen!“ rufen wir jetzt gerne. Natürlich wollen wir uns nichts Böses. Schon klar. Wir wollen ja gerade Liebe machen. Der Punkt ist aber nicht die individuelle gute oder böse Absicht, sondern kollektiv derselbe tote Winkel, dieselbe Lücke in unserem Nervensystem. Wir alle sind – in unseren guten Absichten – Kinder einer verwirrten Kultur. Waiting for „the One“? Mit wem wir Hingabe üben (will sagen: Abgrenzung üben) ist austauschbarer, als wir glauben. Und ich habe noch nie, noch nie einen Menschen getroffen, der schlicht und simpel in seinen Grenzen wohnte, ohne dafür bewusst gearbeitet zu haben.

Vererbte Verletzungen

So legen sich heimlich, still und leise ganze Bereiche unseres Lebens lahm, wir lähmen unsere Talente, vergessen unsere Ekstasen, stürzen uns in die Arbeit, wir kollabieren in unseren tiefsten und wichtigsten Muskeln, wir verkürzen die Faszien unserer Körper und erstarren in unseren Organen – um die mächtigen instinktiven Kräfte in uns an ihrer Arbeit, ihrem Strömen zu hindern. Deshalb formuliert Peter Levine: „Trauma ist, woran wir festhalten.“

Trauma reißt die Pole von intakten eigenen Grenzen und Hingabe an einen Kontakt, die für ein Tier noch ein- und dasselbe sind, auseinander und macht sie zu Gegensätzen. Der tiefe kollektive Riss in unserem Nervensystem, was diesen Punkt betrifft, spiegelt sich in unzählbar vielen Fragen unserer Kultur. „Freiheit oder Bindung“, „Neinsagen oder Jasagen“, „Aggression oder Liebe“, usw.

Was bedeutet das?

Das bedeutet Folgendes: Verletzte, unklare und diffuse eigene Grenzen fühlen sich „richtig“ an und wenn wir die klaren, gesunden Grenzen eines anderen Menschen erleben, beginnen wir zu zweifeln, zu kritisieren, zu stören und zu werten. Sich um die eigenen Grenzen kümmern zu sollen, macht uns unruhig statt friedlich.

Wenn wir im Trauma leben, leben wir in dieser genau verkehrten Welt: Das Falsche fühlt sich richtig an und das Richtige fühlt sich falsch an. Das Tier in uns, welches seit Jahren ohne Revier durch die Wildnis tigert, ist überreizt, erschöpft, misstrauisch, aggressiv und verwirrt geworden.

Wir sehen, dass das allgemeine und verbreitete, das scheinbar so banale Thema mit der Hingabe und der Kontrolle direkt in unsere kulturelle Trauma-Tiefe führt. Und damit in unser individuelles Potential, ganze Felder von vererbtem Trauma aufzudecken und zu entspannen.

Für das Abenteuer, unsere sexuelle Hingabe zu feiern, heißt das: Früher oder später durchlaufen wir dafür die Reparatur der eigenen Grenzen. Tiefe Hingabe wieder zu entdecken stellt unterwegs unseren Mut und unser Zutrauen her, dass wir unsere eigenen Grenzen wahrnehmen können, wahrnehmen dürfen, schützen wollen und schützen werden. Weil wir nicht anders können – weil unser Nervensystem nicht anders will. Um diesen Punkt, diesen Liebesakt mit sich selbst kommt eine jede Heilung nicht herum: Grenzen reparieren.

Und wie reparieren wir unsere Grenzen?

Hier geht es weiter zu Das mit der Hingabe #3!

 

***

©Ilan Stephani
www.kalis-kuss.de
www.101mosh.com