Kegel-Übungen 2.0 #2 – Wie das CANTIENICA®-Beckenbodentraining unser Körpergefühl verwandelt

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In Kegel-Übungen 2.0 #1 haben wir gesehen, wie herkömmliches Beckenbodentraining funktioniert.

In diesem Text möchte ich demgegenüber das CANTIENICA®-Beckenbodentraining beschreiben. Ich orientiere mich dabei anatomisch an einem weiblichen Becken – das Thema Beckenboden ist aber auch für Männer eine Fundgrube.

 

Klassische Schulen für den Beckenboden bauen die Muskelspannung vorne im Becken auf, und zwar weit unten, im Bereich der Klitoris und Harnröhre, und ziehen diese Kraft dann entlang der Vagina nach oben.

Um es kurz zu machen: Die CANTIENICA®-Methode setzt exakt anders herum an. Sie „startet“ die Muskelaktivität innen und oben im Beckenraum, und die Achse dieser Kraft befindet sich über dem Anus statt in der Vagina (also insgesamt eher hinten als vorne).

Bei diesem Vorgehen aktiviert sich die innerste der drei Beckenbodenschichten zuerst – der sog. „Levator Ani“. Übersetzt ist das der „Anusheber“. Dieser Levator Ani avancierte zum Superstar der modernen Beckenboden-Forschung. Er ist mit Abstand die kräftigste und größte Schicht des Beckenbodens und vereint in sich die Power von fünf Muskeln (die komplizierte lateinische Namen haben). Diese fünf Muskeln wiederum bilden mit jeweils einem rechten und einem linken Strang gemeinsam eine elastische Schale für unsere Beckenorgane.

Nun wissen wir also, dass der Levator Ani komplex zusammengesetzt ist.
Aber was macht ihn so besonders?

Wir können seine Talente in verschiedene Aspekte aufteilen.

Erstens liegt der Levator Ani mitten im Zentrum unseres Körpers und hält und stützt die Organe, in denen wir Menschen heranwachsen und geboren werden. Intimer geht es nicht. Der Levator Ani ist eine warme, kraftvolle Muskelschale, die die erste Heimat unseres Lebens umarmt, bewegt und nährt.

Zweitens ist der Levator Ani kein isolierter Muskel, sondern vielmehr eines der „Herzen“ unserer Tiefenmuskulatur.

Er ist Teil eines komplexen Muskel-Netzwerks, das sich an allen Knochen und Gelenken entlang durch unseren Körper erstreckt. Er ist damit auch Teil von zwei kaum bekannten Muskel-Prinzipien:

1.) Nicht in der Kontraktion zu arbeiten, sondern in der Verlängerung. „Aufspannung“ nennt die CANTIENICA®- Methode dieses Wesen unserer Tiefenmuskulatur, das so einige Paradigmen westlicher Körperbilder auf den Kopf stellt.

2.) Nicht isoliert zu funktionieren, sondern in der ganzkörperlichen Vernetzung. „Alles ist mit allem verbunden“ – wir finden kaum eine schönere Bestätigung dieser Weisheit als unser eigenes Körper-Design.

Der Levator Ani wird zum Epizentrum eines Pulses, der den gesamten Körper erfasst, durchschwingt, bewegt und von innen heraus massiert.

3.) Und drittens ist der Levator Ani im Zeitalter des Sitzens eine atemberaubende Wieder-Entdeckung!

Denn als Kleinkinder bewegen wir uns aus einer intakten und aktiven Tiefenmuskulatur heraus – als Erwachsenen aber haben wir es in den meisten Fällen gründlich vergessen (Stichwort Schulzeit – ein kollektives Sitz-Trauma). Unser körperliches Potential für Aufrichtung und „Leichtkraft“ (ebenfalls eine CANTIENICA®-Wortschöpfung) wieder wachzuküssen ist ein umfassendes Aha-Erlebnis mit ganzheitlichen Auswirkungen.

Der „Anusheber“ kann also weit mehr, als unseren Anus zu heben – er vermag unser bisher gewohntes Körperbild und Körpergefühl aus den Angeln zu heben – und so manches Lebensgefühl noch dazu.

Klingt fantastisch, oder?

Dann kommen wir nun zu den NACHTEILEN von diesem Ansatz:

Wir müssen auf einen schnellen Durchbruch verzichten.

Während wir bei den beiden kleineren, äußeren Beckenbodenschichten auf Anhieb Erfolg haben können, ist der Zugang zum Levator Ani ein langfristiges Projekt. Direkt die innerste Schicht des Beckenbodens zu „erwischen“ ist für die meisten Menschen anfangs schwieriger, und in älteren Texten zum Beckenboden herrscht die Meinung vor, der Levator Ani sei grundsätzlich nur indirekt spürbar. So verbringen wir die ersten CANTIENICA®-Stunden in der heimlichen, festen Überzeugung, leider keinen Levator Ani zu besitzen. (Das macht es auch so schwierig, einen echten Zugang zur Tiefenmuskulatur per Text oder in einem Blog zu vermitteln).

Verbale Anleitungen für die CANTIENICA®-Methode sind mittlerweile ein seit Jahrzehnten gewachsener Erfahrungswert, mit welchen Bildern und Wortkreationen wir uns an die unbekannte, verborgene Wahrnehmung der Tiefenmuskulatur „heranpirschen“ können. Dennoch oder deshalb klingen die Anleitungen ungewohnt, kompliziert und nach „zuviel auf einmal“. Und sie sind in geschriebener Form noch schwieriger als gesprochen…

Hier eine improvisierte Kurzversion von mir:

„Setzen Sie sich auf einen Hocker mit gerader Sitzfläche, die Sitzhöcker vorn an den Hockerrand und die Fersen exakt unterhalb der Kniegelenke. Die Beinachsen im Abstand Ihrer Hüftgelenke nebeneinander ausrichten und in die Länge dehnen: Bewegen Sie Ihre Sitzhöcker einen Hauch nach hinten, als wollten Sie ein Hohlkreuz andeuten, gleichzeitig Ihre Kniescheiben nach vorn. Ihre Bein- und Gesäßmuskeln entspannen sich in die Länge hinein, alle Gelenke sind offen. Zentrum des Brustkorbs und des Schädels exakt über dem Zentrum des Beckens ausrichten und nun in die Länge hinein dehnen: Ihre Wirbelsäule bewegt sich aus der „Doppel-S-Form“ in eine kerzengerade Aufrichtung hinein. Sie entspannen die Arme zu beiden Seiten Ihres Brustkorbs nach unten und legen Ihre Handrücken entspannt auf die Oberschenkel. – Nun stellen Sie sich vor, dass sich Ihre Sitzhöcker durch den Hocker hindurch etwas nach unten und zart nach hinten verlängern. Dieses verlängerte untere Ende Ihrer Sitzhöcker ziehen Sie nun ein paar Male von innen heraus zueinander – und lösen – zueinander – und lösen… Gespürt? Wenn Sie Ihre äußeren Muskeln am Gesäß und in den Beinen entspannt lassen, springt innen in Ihrem Beckenraum ein Muskelnetzwerk an, welches Ihre Sitzhöcker und Beckengelenke klar zu bewegen vermag. Großartig. Das ist Ihr Levator Ani.“

Alles klar?

Wir sehen: Der direkte Zugang zu unserer Tiefenmuskulatur scheint tief vor uns verborgen… Jedenfalls habe ich noch keine Frau erlebt, die nicht zu Beginn an ihrem Körper oder meinem Verstand gezweifelt hätte.

Dann jedoch, wenn diese Schwelle zur Wahrnehmung und zum Bewusstsein überschritten ist, öffnet das unmittelbare Empfinden vom Levator Ani eine Kraft und Tiefe, die alle Kegel-Übungen an Verspieltheit, Möglichkeit und Dimension in den Schatten stellt.

Und damit kommen wir zu den VORTEILEN des Ansatzes:

Der Levator Ani kann etwas, das die beiden äußeren/unteren Beckenbodenschichten nicht können und auch nicht ersetzen können. Der Levator Ani ist die einzige Muskelgruppe, die tatsächlich das Potential besitzt, all das zu erfüllen, was wir uns von einem wachen, dynamischen Beckenboden wünschen können: ein intimes Gespür für unseren Beckenraum, mehr Körpergefühl, Selbstvertrauen und Lebensfreude, einfachere Schwangerschaften, natürlichere Geburtsverläufe, Hilfe gegen Prostatabeschwerden (Beckenboden ist ein exquisites MännerthemaJ) und lebenslangen Schutz vor Arthrosen, Bandscheibenvorfällen, Inkontinenz, Organsenkung und „natürlichen Verschleißerscheinungen“.

Und was hat all das jetzt mit unserer Sexualität zu tun? Darüber schreibe ich im nächsten Posting.
Versprochen.

 


Die Gründerin der CANTIENICA®-Methode, Benita Cantieni, war in ihrem „früheren Leben“ Journalistin und hat eine Reihe ausführlicher Bücher über die Schwerpunkte ihrer Methode geschrieben. Ich habe mir die CANTIENICA®-Methode anfangs aus Büchern erschlossen und weiß also, dass dieser Lernweg möglich ist. Für Neulinginnen empfehle ich Frau Cantienis älteren Bücher (Tiger Feeling bis Erscheinungsjahr 2003), weil dort die Anleitungen einfacher und übersichtlicher beschrieben sind als in den neueren Büchern. Natürlich kannst du auch schauen, ob in deiner Nähe ein CANTIENICA®-Kurs angeboten wird. Und wenn du in Berlin wohnst, bist du herzlich in meinen CANTIENICA®-Gruppen und Beckenboden-Intensives willkommen.

 

©Ilan Stephani